Die Geschichte vor der Geschichte: Archäologische Funde an historischer Stätte

Archäologe Dr. Cornelius Ulbert über Ausgrabungen am Neuen Kanzlerplatz

© I. Jöns, ArchaeoNet

Dr. Ulbert ist freiberuflicher Archäologe, arbeitet seit 30 Jahren vorwiegend im Rheinland für Grabungsfirmen und Bodendenkmalämter und ist Experte für den vicus – denn der Neue Kanzlerplatz war schon vor fast 2.000 Jahren ein belebtes Areal, wie uns der Archäologe im Interview schilderte.

Bei der Umsetzung von Immobilienprojekten stoßen ausführende Firmen immer wieder auf archäologische Funde. Auch bei den Arbeiten am Neuen Kanzlerplatz nach der Sprengung des Bonn-Centers stieß Art-Invest Real Estate auf Zeugnisse der Vergangenheit und engagierte Archaeonet mit seinen Gesellschaftern Martha Aeissen und Zafer Görür.

Seit 2004 führen die Grabungsspezialisten mit ihrem Team aus erfahrenen Feldarchäologen, Grabungstechnikern und freiberuflichen Fachkräften archäologische Dienstleistungen durch. Für die Funde am Neuen Kanzlerplatz wurde Dr. Cornelius Ulbert aufgrund seiner Expertise hinzugezogen.


Impulsgeber: Lieber Herr Dr. Ulbert, Sie waren leitender Archäologe bei den Ausgrabungsarbeiten auf dem Areal des Neuen Kanzlerplatzes. Können Sie sich an den ersten Eindruck von der Grabungsstätte erinnern?

Dr. Cornelius Ulbert: Auf den ersten Blick gab das große Loch, das nach der Sprengung des alten Bonn-Centers zu sehen war, wenig Hoffnung, dort noch etwas zu finden. Andererseits waren die beiden relevanten Stellen entlang der Reuterstraße mit den vermuteten Gräbern und die Ostecke, die in den Bereich des römischen vicus (Zivilsiedlung) ragte, noch unversehrt. Deshalb wurde die Maßnahme vom Denkmalamt dennoch veranlasst.

Befunde im Planum. © C. Ulbert, Ulbert Archäologie

 Impulsgeber: Wie unterscheiden sich archäologische Arbeiten bei Bauprojekten von derartigem Umfang zu Aufträgen Ihrer sonstigen Berufspraxis?

Dr. Ulbert: Der Unterschied liegt nicht in der Größe der Fläche – es gab im Bereich des vicus viel größere Projekte, wie beispielsweise das WCCB (World Conference Center Bonn, Anm. d. Red.) oder das Haus der Geschichte – sondern darin, ob die Bauarbeiten bereits laufen. Dann muss man sich mit anderen Gewerken absprechen, um sich nicht gegenseitig zu behindern. Es ist klar, dass die Ausschachtungsarbeiten in einem anderen Tempo vorangehen als wir Archäologen. Ich muss aber sagen, dass die Zusammenarbeit mit der Bauleitung von Art-Invest Real Estate und der Tiefbaufirma sehr gut geklappt hat.

Impulsgeber: Welche Gegenstände konnten Sie bei den Ausgrabungen bergen? Gab es ein außergewöhnliches Fundstück, das Sie überrascht hat?

Dr. Ulbert: Natürlich waren es die Brunnenfunde, die besonderes Aufsehen erregten. In einem der Brunnen kamen in ca. 10 Metern Tiefe sieben Steinskulpturen zu Tage. Das schönste Stück war ein 0,6 Meter hoher kopfloser, aber sonst fast vollständig erhaltener thronender Apoll mit einer Kithara (Saiteninstrument) im Arm. Vor allem seine ungewöhnlich gute Ausgestaltung war für die römischen Provinzen nicht alltäglich. Neben dem Apoll wurden noch Fragmente von zwei weiblichen Statuetten, zwei Altären und einem Inschriftenstein geborgen. Das Ensemble gehörte vermutlich zu einem Privatheiligtum eines sicherlich nicht ganz armen Bewohners des vicus. Alle Stücke wurden in Schichten des 3. Jahrhunderts n. Chr. gefunden, was darauf hindeutet, dass sie im Zusammenhang mit den Germaneneinfällen dieser Zeit zerschlagen und in den Brunnen geworfen wurden. Für mich persönlich war aber auch der Teil eines Gesichtsgefäßes, das in einem Holzfass gefunden wurde, ein besonderer Fund.

Brunnen im Profil. © M. Jörres, ArchaeoNet

Impulsgeber: Warum wurden diese Gegenstände nicht schon beim Bau des Bonn-Centers in den 1960er-Jahren entdeckt?

Dr. Ulbert: Damals war der Denkmalschutz noch nicht so streng wie heute. Erst 1980 trat in NRW das erste Denkmalschutzgesetz in Kraft. Zudem hatte alles, was mit der Entwicklung Bonns zur Bundeshauptstadt zu tun, Vorrang. Deshalb konnte man die Baustellen nicht so gut kontrollieren wie heute. Dennoch wurden auch damals wichtige Befunde und Funde von Archäologen dokumentiert. Was die oben erwähnten Fundstücke betrifft: Die lagen einfach zu tief in dem Brunnen, der ja auch heute noch nicht vollständig ausgegraben ist. Wer weiß, was da noch alles drin ist! Aber das ist für die nächste Zeit gut geschützt.

Impulsgeber: Wie wurde mit den Funden nach der Bergung verfahren? Wo befinden sich die Stücke seitdem?

Dr. Ulbert: Die Funde wurden in das LVR-LandesMuseum Bonn gebracht und restauriert. Seitdem werden dann in dessen Magazinen aufbewahrt. Was den Apoll betrifft, so bin ich mir sicher, dass man ihn irgendwann in der Dauerausstellung des Museums sehen wird.

Impulsgeber: Seit der zehnjährigen Baurezession von 1995 bis 2005 herrscht in Deutschland ein Bauboom. Von 2008 bis 2018 legten die Bauinvestitionen um insgesamt 17 % zu. Welche Auswirkungen hat dieser Zuwachs für Ihre Arbeit als Archäologe?

Dr. Ulbert: In NRW gilt das Verursacherprinzip. Das bedeutet, dass jeder Bauunternehmer, auf dessen Grundstück der Verdacht auf Archäologie besteht, dieses vorher fachkundig untersuchen lassen muss. Infolgedessen profitierte natürlich auch die archäologische Forschung von dem Bauboom. Wenn auch nur ungern, denn man hätte die Raritäten lieber geschützt im Boden gelassen.

Impulsgeber: Wie empfinden Sie die Bedeutung des Neuen Kanzlerplatzes für das Bundesviertel und Bonn aus privater Sicht?

Dr. Ulbert: Die Funde und Befunde auf dem Kanzlerplatz sind ein weiteres Puzzlestück zur Rekonstruktion der römischen Vergangenheit von Bonn. Und man sieht wieder einmal, dass verglichen mit dem, was dort durch die Altbebauung unbeobachtet verloren gegangen war, auch noch auf kleinen Flächen viel zu finden ist.

Impulsgeber: Herr Dr. Ulbert, wir bedanken uns für das Gespräch.